Wo die Reise hingeht, das weiß niemand
Michael ist unser erstgeborenes Kind. In der Schwangerschaft verlief alles regelrecht und gut, nichts deutete auf eine Behinderung oder Besonderheit hin. Vermutlich hat unser Junge schon die ersten Tage nach der Geburt gekrampft. Unsere Hebamme zu Hause machte uns darauf aufmerksam: "Ihr müsst sofort wieder in die Klinik!"
Wir hatten keine Ahnung, wussten nichts und wurden auch im ersten Krankenhaus nicht gut genug aufgeklärt, was los ist. Erst nach neun Wochen erklärte uns der Arzt vom SPZ genaueres, z. B. wie sich diese Art von Anfällen auf unser Kind auswirken kann.
Uns hat es den Boden unter den Füßen weggezogen, unser Leben veränderte sich auf einen Schlag. Wir waren vollkommen unvorbereitet. Die Sozialpädagogin der Epilepsieberatung meinte vorsichtig, "dies ist der Anfang eines steinigen Weges". Daran müssen wir immer wieder denken, denn so war es.
Ich bin eine Frau, die gerne plant und strukturiert, aber ich kann nicht mehr weit vorausplanen. Ich lebe von Tag zu Tag. Mein erster Blick geht zu unserem Sohn: Wie geht es ihm? Wenn es ihm gut geht, dann muss ich den Tag nutzen. Wenn es ihm schlecht geht, dann richtet sich alles nach ihm. Spontanität ist schwierig. Ich musste lernen, flexibel zu sein. Das war für mich eine große Umstellung. Der Umgang mit der Zeit ist verändert.
Im ersten Lebensjahr waren wir 9 Wochen auf Intensiv, dann ging es vier Jahre relativ gut, zumindest ohne Klinikaufenthalte.
Schlimm war für uns, dass wir von manchen Freunden sehr enttäuscht wurden. Aber wir haben neue Menschen kennengelernt, mit denen sich Freundschaften entwickelt haben. Von manchen Menschen wurden wir positiv überrascht. Es wird schwieriger mit dem Umfeld, je älter unser Sohn wird.
Ich habe festgestellt, dass es Energieräuber gibt, da habe ich gelernt, mehr Abstand zu halten. Ich spüre manchmal Enttäuschung und es ärgert mich, z. B. wenn wir zu Unternehmungen im näheren Umfeld nicht eingeladen werden. Es passt nicht immer, mit unserem besonderen Kind überall teilzunehmen, aber ich würde mir wünschen, dass zwischendurch ein Versuch gemacht wird, auf unsere Bedürfnisse einzugehen. Es tut mir weh, dass wir oft nicht dabei sein können. Es kommen dann so Gedanken wie "Liegt es an mir? Bin ich verbittert?" Schade ist, wenn wir zum Beispiel nach einem Klinikaufenthalt nicht gefragt werden, wie es Michael geht. Da tun mir andere betroffene Familien mit einem behinderten Kind und Gleichgesinnte gut. Ich fühle mich wohl und verstanden und falle nicht auf.
Der besondere Charme unseres Sohnes? Leute, die viel Kontakt mit ihm haben, sehen seine persönliche Ausstrahlung, er ist immer fröhlich und ausgeglichen. Er ist ein zufriedenes Kind. Ich sehe ihn manchmal kritisch, wenn er laut ist und sich mitteilen will. Außenstehende sehen oft besser, was er alles kann. Das motiviert mich. Ich fühle mich sehr verbunden mit ihm, die Abnabelung ist bei einem behinderten Kind anders und später, in einem anderen Tempo.
Als Bereicherung erleben wir, dass der Blick auf das Wesentliche plötzlich da ist. Bei gesunden Kindern erlebe ich die Eltern häufig im Laufrad und das Kind wird von einem Termin zum nächsten Termin gebracht. Wir sitzen abends oft zusammen mit unserem zweijährigen Sohn und dem Älteren und genießen das Zusammensein, wir scherzen miteinander. Für unseren Kleinen ist es ganz wichtig und selbstverständlich, dass der große Bruder überall dabei ist, auch beim Schlitten fahren. Im letzten Jahr war unser Großer längere Zeit sehr krank und hatte viele Anfälle. Wir bewundern ihn für seine Kraft, das durchzustehen – und das gibt auch uns die Kraft. Ich bin unserem Sohn dankbar, dass er mir die Augen für vieles geöffnet hat und ich mit und durch ihn viel Schönes erfahren durfte.
Hilfreich ist für uns der Austausch und die Verbundenheit mit anderen betroffenen Eltern. Es tut gut zu wissen, dass es anderen auch so geht und wir können uns gegenseitig Tipps geben. Eine weitere hilfreiche Säule ist es, einen guten Arzt zu haben, dem wir vertrauen können. Das gibt uns Sicherheit. Leider wird da in naher Zukunft ein Wechsel bevorstehen, weil der Arzt an einen anderen Ort zieht.
Wir wünschen uns, dass der Kontakt untereinander weiter gelebt wird und wir im neuen Jahr einen Nachmittag mit den kompletten Familien zusammen verbringen können!
Kerstin, Mutter von Michael, 7 Jahre