Landesverband Epilepsie Bayern e.V.

Da war sie schon in mein Herz eingebunkert

Da war sie schon in mein Herz eingebunkert

Unsere Teresa war ein absolutes Wunschkind. Ihre älteren Geschwister waren damals 15, 11 und 10 Jahre alt und ich war 39. Wir wollten noch ein viertes Kind im Schnellgang großziehen.

Dann kam alles anders, der behandelnde Frauenarzt sagte: "Irgendwas stimmt nicht." Am 8. Januar sollte ein genauer Ultraschall gemacht werden, ich wollte nicht. Aber am Abend begannen die Wehen und Teresa wurde per Kaiserschnitt in der 39. SSW geholt. Sie hatte ein extremes Aussehen und war trinkschwach. Alles war anders, sie gedieh nicht, alles ging langsam. Dann hatte ich einen Darmverschluss. Alles war nicht ok.

Als Teresa fünfeinhalb Monate alt war, es war ein schöner Samstagnachmittag, wir waren bei der Gartenarbeit, hatte Teresa einen riesigen Krampfanfall. 3 Stunden lang, sie hätte sterben können. Danach bekamen wir zum ersten Mal die Information: Ihr Kind ist behindert! Was ist behindert???? Das ist ein so weiter Begriff, von fast normal bis schwerstbehindert. Für mich war erst einmal klar: Wenn mein Kind behindert ist, dann an der Grenze zur Normalität. Da war sie schon in mein Herz eingebunkert.

Sie ist der ganzen Familie "eingewachsen". Heute ist sie 20 Jahre alt. Nach ihrer letzten Vorstellung in der pädiatrischen Ambulanz schrieb der Arzt in den Arztbrief: "Teresa präsentiert sich bei Untersuchung in gutem Allgemeinzustand mit Zeichen ihrer schweren Grunderkrankung. Sie wird im häuslichen Rahmen von den Eltern, insbesondere von ihrer Mutter, sehr liebevoll und umfassend gepflegt. Teresa nimmt an ihrer Umgebung intensiv Anteil und zeigt sich zugewandt ... und ist emotional schwingungsfähig." Ja, das ist sie! Sie kann verzaubern.

Sie hat das Wolf-Hirschhorn-Syndrom, das nur bei jeder 50.000sten Geburt vorliegt. Es wird nicht vererbt, sondern ist eine Mutation am 4. Chromosom.

Es ist so wichtig, dass die Eltern das Kind so liebhaben, wie es ist, dass sie es nie hergeben. Man kann ein Kind loslassen oder festhalten. Teresa hat überlebt. Heute müssen 90 % der Kinder, die das Syndrom haben, vor der Geburt sterben. Es ist traurig, dass aussortiert wird.

Ja, es ist eine besondere Liebe zu einem behinderten Kind: Sie brauchen den Schutz der Hilflosen. Man muss sie nicht in die Welt hinaus erziehen, man muss sie nicht so schieben. Man darf sie einfach beschützen und lieben.

Wir haben ein wunderbares Grundgesetz und einen guten Sozialstaat: Es gibt keine Finanzierungs- und Zukunftssorgen für unser behindertes Kind. Sie darf so sein, wie sie ist.

Durch die Anfälle haben wir uns umgestellt. Der 1. Anfall war so schlimm, sie wäre beinahe gestorben. Ich wollte das Kind einfach behalten. Wir haben ein anderes Zeitgefühl entwickelt. Der Faktor Zeit bringt normalerweise so viel Stress ins Leben. Jetzt mussten wir viele Dinge auslassen. Man darf auslassen. Es passiert viel weniger. Es war schön.

Es gab immer wieder viele Anfälle. Und immer wieder das Gefühl, sie könnte sterben. Die Anfälle haben uns in ein neues Lebensgefühl hineingebogen. Man konnte sie nicht aus dem Auge lassen. Ich habe sie immer im Auge behalten. Sie schlief in meinem Arm.

Mit den Medikamenten gab es immer wieder viel Wechsel und Ausprobieren. Manchmal hatte sie 6-12 Anfälle am Tag. Manchmal mussten sie abgesetzt werden, wenn Teresa aggressiv wurde oder ohne ein Medikament wieder viel wacher und fröhlicher war. Das ist alles im Fluss, wir machen, was einfach grade hilft.

Heute bin ich dankbar für die Anfälle. Sonst wären wir nicht hineingewachsen. Wann ich mich erholt habe? Die anderen Kinder waren mein Auftanken: zwei im Gymnasium, eines in der Ausbildung, der Mann hat geschichtet. Da verwurzelt man wieder im anderen Alltag. Wenn ich jetzt eine Auszeit habe, fange ich nach 3 Stunden innerlich an, Teresa zu suchen. Ich bin meinem Mann und den großen Kindern dankbar, dass sie alles so akzeptieren, wie es ist. Andere Männer gehen, das ist oft so bei behinderten Kindern.

Ich wollte immer gut sein in meiner Rolle. Ich habe nicht draußen gearbeitet, und jetzt seit 2017 mit dem Pflegestärkungsgesetz habe ich den Job als Betreuerin, Pflegerin und Mutter offiziell und verdiene für meine Leistung 901 Euro! Und habe viel Zeit in meinem Job. Ich bin nicht mehr gestresst! Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Flügel habe! An was fehlt es mir? Ich genieße die kleinen Momente, ich liebe in der Früh meinen Kaffee, egal wie der Tag verläuft. Es ist Fülle.

Das Haus ist jetzt geordnet, seit die großen Kinder ausgezogen sind. 8 Enkelkinder haben wir inzwischen. Mein Mann ist nicht mehr gesund. Jeder hat seinen Stress, alles darf langsamer gehen. Wir verwachsen wieder.

Was ich an andere Familien weitergeben könnte? Es ist ein Hineinwachsen, ein Annehmen, ein Führenlassen. Es gibt einen Gewinn an Zeit und Raum, einen Zuwachs an Bindung. Man darf sich einlassen.

Was geholfen hat? Dass die ganze Familie Teresa voll angenommen hat. Teresa ist selbstbewusst und strahlend. Sie streckt die Hand aus und kommuniziert auch ohne Worte. Sie lautiert nur, ihre vier Worte sind Mama, Papa, "Am" für die Geschwister und "Bua" für den nicht verheirateten Bruder. Und trotzdem bringt sie sich ein, ist sehr präsent, auch außerhalb der Familie, ist glücklich und macht andere froh. In ihrer neuen Klasse ist sie gut angekommen und bereichert die Klassengemeinschaft. Sie hat Ausstrahlung!

Es tut ihr gut, wenn sie herauskommt. Sie wird eines Tages in einer Förderstätte für schwerbehinderte Menschen sein. Sie verbringt immer wieder mal einen Tag im Wohnheim, sie wird dort schon gekannt und fühlt sich dort auch wohl.

Ich werde es verkraften, wenn wir eines Tages nicht mehr können. Und Teresa auch.

Marlies, Mutter von Teresa, 20 Jahre